Zweimal im Jahr, zum Frühlings- und Herbstanfang, hält die Erde für einen kurzen Moment den Atem an – Tag und Nacht sind gleich lang. Das Äquinoktium markiert einen besonderen Wendepunkt, an dem Licht und Dunkelheit im exakten Ausgleich stehen. Ich nutze diese Tage gerne, um in mich hineinzuhorchen und mein eigenes Leben genauso zu betrachten wie das Miteinander unserer Pferde – in Balance und Harmonie.
Die Natur lebt das Gleichgewicht
Wenn ich bei wilden Pferden draußen bin, ist die Tagundnachtgleiche kaum an einem fixen Datum festzumachen. Pferde lesen weder Kalender noch richten sie sich nach unserer Uhrzeit. Ihr Rhythmus folgt der Länge der Tage, dem Temperaturverlauf und dem „Tonfall“ der Jahreszeiten. Spannend ist: Sobald die Nächte länger werden und die Kraft der Sonne spürbar abnimmt, wandelt sich auch das Verhalten der Herden.

Die Tagnachtgleichen sind für mich sichtbare Symbole für Yin und Yang, für das ständige Wechselspiel von Aktivität und Ruhe, Licht und Schatten, von Fülle und Rückzug. In der Natur wie in den Pferdeherden begegnet uns nie ein starrer Zustand – alles fließt, alles ist in einem dauernden Ausbalancieren.
Yin und Yang in der Pferdeherde
Die Idee von Yin und Yang (aus der chinesischen Philosophie) beschreibt zwei Pole, die sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen. Genau dieses Zusammenspiel sehe ich täglich bei Wildpferden:
- In der Herde gibt es aktive, neugierige, manchmal stürmische Charaktere (Yang) sowie zurückhaltende, ruhige, bewahrende Pferde (Yin).
- Frühling und Sommer bringen Lebendigkeit und Agilität, Herbst und Winter bedeuten mehr Ruhe, Innenschau und Sparsamkeit mit Energie.
- Selbst im Tagesablauf wechseln die Phasen zwischen Bewegung und gemeinsamer Stille. Pferde wissen intuitiv, wann Aktivität angebracht ist und wann Ruhe.

Bei Pferden entsteht echte Balance nicht durch Gleichmacherei, sondern durch die Akzeptanz der Wechsel und Kontraste in uns und unseren Tieren. Jedes Pferd hat Momente voller Feuer und andere, in denen es Besinnung sucht – beides ist wertvoll.
Balance lässt sich nicht erzwingen
Kein Wildpferd ist dauerhaft gelassen oder ruhig – und keines unterdrückt seine eigene Energie. Besonders rund um das Äquinoktium, wenn Balance als Naturprinzip ins Licht rückt, wird das Pendeln zwischen Aktivität und Ruhe, Spannung und Entspannung besonders deutlich. Yin und Yang stehen für Lebendigkeit und Bewegtheit.
Viele Pferdebesitzer glauben, dass Gelassenheitsübungen oder spezielle Trainings innere Ruhe herstellen oder gar Balance einfordern könnten. Doch genau das widerspricht dem grundlegenden Prinzip von Yin und Yang und dem natürlichen Verhalten frei lebender Pferde. Balance und echte Ausgeglichenheit kann nicht befohlen oder konditioniert werden.
Pferde sind feinfühlige Wesen mit individuellen Charakteren, die auf jede Veränderung im Umfeld, jede Temperatur- oder Lichtschwankung und auf jede Dynamik in der Herde auf ihre Weise reagieren. Mal sprüht ein Pferd vor Energie, mal zieht es sich zurück oder zeigt, dass es gestresst ist – und das ist ganz normal. Zu erwarten, dass ein Pferd immer ruhig, „artig“ oder kontrolliert sein muss, wäre unnatürlich und würde ihm auch die Möglichkeit nehmen, seine innere Balance selbst zu finden.

Wildpferde versuchen nie, Gelassenheit zu erzwingen. Ebenso wenig würden sie anderen Herdenmitgliedern dauerhafte Ruhe vorschreiben oder Ungleichgewicht als „Fehler“ werten. Sie sind balanciert, weil sie die Spannung zulassen, Entladung akzeptieren und durch ihren Zusammenhalt ausbalancieren.
Warum Balance ein Vorbild braucht
Statt einem Pferd permanent Ruhe abzuverlangen, macht es mehr Sinn, selbst der ruhende Pol zu werden. Wildpferde orientieren sich an Herdenmitgliedern mit beständigen Schwingungen – an Pferden, die aufmerksam und entspannt sind, aber trotzdem auf ihr Umfeld reagieren. Wer innere Balance verkörpert und sie mit Gelassenheit und Präsenz lebt, lädt das Pferd zum Mitschwingen ein. Es entsteht ein Raum, in dem Schwankungen angenommen und ein Rhythmus wiedergefunden wird.

Balance ist immer etwas Gemeinschaftliches, sie kann nur im passenden Umfeld wachsen. In einer Umgebung, wo Pferde Rückzugsmöglichkeiten, soziale Grenzen, verlässliche Routinen und wohltuende Strukturen finden, lebt sich das Prinzip von Yin und Yang fast von selbst aus. Ruhe und Lebendigkeit, Nähe und Abstand, Aktivität und Stille finden ihren ganz natürlichen Wechsel.
Das Äquinoktium als spiritueller Impuls
Für mich ist die Tagundnachtgleiche mehr als ein astronomisches Ereignis. Sie ist eine Einladung, innezuhalten und zu fragen: Wie ausgeglichen ist mein Leben? Wo spüre ich Licht, wo braucht es Schatten? Bin ich bereit, Altes loszulassen, damit Neues entstehen kann?
Auch in der Herde verändern sich Beziehungen. Freundschaften lösen oder vertiefen sich. Pferde stimmen sich im Herbst aufeinander ab, als würden sie ein gemeinsames Gleichgewicht für die dunklere Zeit suchen.
Was wir von Wildpferden lernen können
Wenn ich an den alten silbergrauen Konikhengst denke, der mit Ausgeglichenheit und Souveränität seine Herde führte, stelle ich mir immer das Symbol von Yin und Yang vor. Olko vereint Kraft und Sanftmut, Initiative und Geduld.

Wildpferde zeigen uns, dass Ausgewogenheit nie Stillstand bedeutet, sondern eine sich ständig wandelnde Balance zwischen den Polen. Sie wissen, wann gemeinsam aufgebrochen wird, wann Nähe und wann Abstand gebraucht wird. Dieses feine Gespür für Balance ist tief spirituell, es setzt Verbundenheit mit sich selbst, der Herde und der Landschaft voraus.
Balance und Spiritualität im Alltag mit Pferden
Im täglichen Umgang lässt sich viel lernen:
- Die natürlichen Rhythmen sollten wir ernst nehmen und füttern, bewegen oder Pferde ruhen lassen, so wie die Tages- und Jahreszeit vorgeben.
- Jede Begegnung, auch eine einfache Stille oder das Grasen sollten wir als Moment begreifen, der Balance stärkt.
- Wir sollten Dialoge mit Pferden aufbauen, die auf Präsenz, Timing und Geduld basieren.
Die Tagundnachtgleiche ist ein Tanz der Balance, so wie im Leben, in der Herde und in uns.
Ein Ritual zur Tagundnachtgleiche
Seit vielen Jahren ziehe ich zum Äquinoktium gemeinsam mit Wildpferden durch ihren Lebensraum und versuche, meinen Rhythmus an die Herde anzupassen. In diesen Stunden spüre ich, wie Tag und Nacht in mir für einen Moment gleich schwer werden und innere Balance entsteht.

Für Pferde ist Spiritualität kein abstraktes Konzept. Ihr Gleichgewicht ist gelebte Präsenz. Mal nach außen, mal nach innen, aber immer in Beziehung zur Umwelt und Herde. Die Tagundnachtgleiche lehrt uns, das Pendeln zu akzeptieren. Die Tagundnachtgleiche erinnert uns daran, dass Balance durch Annahme und Akzeptanz entsteht und nicht durch Kontrolle. Pferde lehren uns, diese Schwankungen zuzulassen und zeigen uns, dass echte Ausgeglichenheit immer die Freiheit einschließt.
Genieße die Übergänge, spüre die Wellen – und sei freundlich mit dir und den Pferden. Balance lebt von geteilter Präsenz, Empathie und der Freiheit, anders zu sein.
Herzliche Grüße aus der Herde,
Marc Lubetzki